dokumentierter text, der über die Mailingliste der Internationalen Schülerinnen- und Studentenproteste kam:

 

Kritik am Aufruf

Im Internet steht seit einiger Zeit ein Aufruf einer Gruppe namens „Eu for the People“, der europaweit SchülerInnen und StudentInnen zu Streiks und Protestaktionen während des Eu- Gipfels, der vom 10. Bis 14 Dezember in Brüssel stattfindet, auffordert. Die inhaltliche Stoßrichtung ist hauptsächlich auf ein Verbot von Studiengebühren ausgerichtet. So sehr ein solcher Aufruf seine Berechtigung hat, ja so notwendig er ist, so sehr leidet dieser unter theoretisch defizitärer und teilweise den Intentionen (vorausgesetzt ich habe die Intention des Aufrufs richtig verstanden) widersprechender Argumentation. So sei nochmals betont, es geht hier nicht um die Diffarmierung einer Gruppe, sondern lediglich um eine inhaltliche Kritik an einem notwendigen Aufruf zu ebenso notwendigen Protestaktionen und Streiks.

Intention ist es also, mit Blick auf den letzten großen Uni-Streik 1997, auf die Fehler von damals hinzuweisen, die meiner Einschätzung nach in diesem Aufruf wieder erkennbar sind, um einen kleinen, bescheidenen Beitrag zu leisten, den intendierten Streik nicht von vorne herein in eine Sackgasse zu steuern. So, genug der Vorrede.

 

1. ‚Die Ziele der Bildung ändern sich rapide, stellen sich in den Dienst der privaten Wirtschaft.‘ (1) Später wird dies dann etwas konkretisiert: ‚Da die Hauptaufgabe nunmehr darin bestehen soll, Humanressourcen im Dienste der Unternehmen auszubilden, verwundert es nicht, daß das Privatkapital [...] dem Bildungswesen die eigenen Ziele und Prioritäten aufzuzwingen sucht.‘ [Hervorhebung von mir] Diesen Formulierungen folgend bläst das Privatkapital zum Großangriff auf das bisher unabhängige Bildungswesen, welchen es zurückzuschlagen gilt. Es bleibt schleierhaft, auf welches Bildungssystem hier rekurriert wird; der Mythos des sozialen Bildungssystems nach Humboldtschen Idealen wird auf die Vergangenheit projiziert, ohne daß eine adäquate historische Betrachtung und Analyse der Schulen und Universitäten überhaupt nur erwogen wurde. Es ist vorausgesetzt, daß die Bildung bisher einzig und allein der Bildung wegen existierte. Doch das verschleiert die Ideologie der bürgerlichen Bildung, die gleichzeitig ungewollt reproduziert wird. Das Glücksversprechen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, alle wären gleich und könnten am gesellschaftlichen Reichtum partizipieren und durch Bildung als autonome Wesen ihr Leben selbst bestimmen, welches selbst immer bloße Ideologie war, wird als historische Realität vorausgesetzt um von einer Veränderung der Ziele der Bildung sprechen zu können. Wird der Schleier der Ideologie jedoch gelüftet, wird deutlich, daß Bildung seit der industriellen Revolution, seit der ursprünglichen Akkumulation, sich immer schon zentral in den Dienst der Verwertungslogik stellte. Während aber, um möglichst zeitnah am Aufruf zu bleiben, im fordistischen Wohlfahrtsstaat die Ideologie der Autonomie des Einzelnen durch die spezifischen ökonomischen Bedingungen sich erhielt, gar ausgebaut wurde, demaskiert sich die Bildung in Zeiten der postfordistischen Transformationen als daß was sie im Wesen immer war: Die selektive Produktion von sehr differenzierter Arbeitskraft nach den Anforderungen der ökonomischen Notwendigkeiten zur Stabilisierung – auch in dem Sinn eine möglichst loyale Einstellung zum Bestehenden zu erzeugen - und Maximierung des Profits. (2) Es findet also keine Änderung der Ziele der Bildung statt, sondern eine Transformation der Wege, diese Ziele zu erreichen.

 

2. „Wir werden darauf drängen, dass jetzt eine entsprechende Kampagne gegen die Gebühreneinführung und für den Rücktritt der Ministerin vorbereitet wird.“ Und kurz danach geht es weiter: „Die Regierungsparteien sollten sich überlegen, ob sie kurz vor der Bundestagswahl einen Großkonflikt an den Hochschulen haben wollen. Sie sollten nicht vergessen, dass es wegen der rot-grünen Versprechen bei der letzten Bundestagswahl viel Unterstützung aus der Studierendenschaft gab.“ Wird hier etwa damit gedroht, die Studierenden könnten, oder sollten gar, bei Nichteinlösung der Forderungen, etwa die CDU wählen?

Selbstverständlich muß es breit angelegte Protestaktionen gegen Studiengebühren geben, gegen solche die noch kommen sollen und erst recht gegen die, die schon installiert sind (für sogenannte „Langzeitstudenten“ (3) oder beim Zweitstudium). Aber das beleidigt-trotzige (nicht: Trotzkyge, kleiner Scherz) „wenn ihr euer Versprechen nicht haltet, wählen wir euch nicht mehr, ätsch!“(etwas polemisch, ich weiß) ist doch nicht mehr als eine Drohung, die in der Forderung dann die CDU zu wählen endet, und somit leicht in die Hose gehen kann.

Die fast schon entpolitisierten Forderungen nach dem Rücktritt einer Ministerin und der gesetzlichen Festschreibung eines Verbotes von Studiengebühren zeigen, ebenso wie später die Ursachensuche bei der Umgehung „[...]der demokratischen Kontrolle  nationaler  Parlamente [...]“, daß das zu erreichende Ziel, bewußt oder unbewußt,  nichts anderes ist als das fordistische System ist. Das ist theoretisch wie praktisch unmöglich und auch nicht zu wollen. Wenn Forderungen auf der Erscheinungsebene verharren, wird ihnen jegliches politisches Potential geraubt. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Fixierung auf den Nationalstaat als den Heilsbringer, der gegenwärtig von dem Prozeß der Globalisierung ausgehöhlt werden soll. Es wird völlig übersehen, daß gerade die nationalstaatlichen Regierungen, die Transformationsprozesse vorantreiben, und somit auch den Umbau der staatlichen Organisation organisieren. Gleichzeitig fällt die genaue Analyse der Universitäten und Schulen in ihren Rollen oder Funktionen im Staat, bzw. als notwendiger Teil des Staates – Stichwort ideologischer Staatsapparat -, weg.  Statt dessen wird der Fokus ausschließlich auf die supranationalen Institutionen WTO oder EU gerichtet, und ihnen die alleinige „Schuld“ an den derzeitigen Transformationsprozessen zugeschoben. Selbstverständlich haben auch EU und WTO daran teil, sie spielen sicherlich keine unwesentliche Rolle, aber die einseitige Ausrichtung verkürzt und leitet zu falschen Schlußfolgerungen, die dann darin enden, den fordistischen Staat zurück haben zu wollen. Daß im gleichen Zug auch noch Formulierungen wie „demokratische Kontrolle nationaler Parlamente“ von denen übernommen werden, die an den Regierungen oder in den Parlamenten sitzen, also den Apologeten der Art ‚Demokratie‘, in der wir leben, passt ins Bild. Anstatt nun eine radikale Kritik am Staat, bzw. der Wertvergesellschaftung, die ohne Staat nicht existieren könnte, diesen also notwendig hervorbringt, zu formulieren, wird auf das mythische Bild des gerechten Kapitalismus und der gerechten Staatsdemokratie rekurriert. Nicht die Wertvergesellschaftung in Warenform wird kritisiert, sondern die Verteilung eben der Waren. Die Problematik wird auf die Distributionsebene geschoben; somit wird von vorne herein eine tiefergehende Analyse verhindert und wir stehen wieder dort, wo wir am Anfang und Ende des Streiks 1997 gleichermaßen standen – bei der Forderung nach mehr Geld. Diese Losung macht(e) es den Verantwortlichen leicht, sich auf der einen Seite zu solidarisieren und auf der anderen Seite gleichzeitig zu sagen, wir haben nichts, was wir euch geben könnten.

 

3. Doch auf die Solidarisierungseffekte baut dieser Aufruf auch an anderer Stelle. So heißt es unter der Überschrift „Bildung für elitäre Zirkel“ lapidar : „Es liegt auf der Hand: Studiengebühren in welcher Form auch immer können diese Situation nur verschärfen. (4) Deutschlands im internationalen Vergleich niedrige Akademikerquote ist so jedenfalls kaum zu heben.“ Da haben wir’s. Rufen die VerfasserInnen vorher zu Widerstand gegen die Institutionen der neoliberalen Umwandlung auf, bringen sie hier ein – eigentlich diametral entgegengesetztes – Argument für den Standort Deutschland. Deutschlands Akademikerquote muß gesteigert werden, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können. Hier wird das a priori des Aufrufs deutlich, ihn nämlich so zu formulieren, daß eigentlich jede und jeder ihm zustimmen können, wenn nicht müssen. Also neben den Linken auch die Neoliberalen oder Reaktionären an den Schulen und in den Unis. Es mag der Unistreik von 1997 noch in den Hinterköpfen herumgegeistert sein, als es ‚so toll‘ war, daß auch diejenigen, die sonst noch nie zu den Streikbegeisterten gehörten, mitstreikten. Daß deren Ziele jedoch dem Ziel einer Emanzipation des Menschen entgegengesetzt sind, scheint die VerfasserInnen nicht zu stören. Daß das oben genannte ‚Argument‘ ebenso eines für die Abschlüsse „Master“ oder „Bachelor“ ist, welche ebenso einem Studium, welches auch ein Studium ist, entgegenstehen, und zu den beliebtesten Forderungen derer gehören, die zur Zeit kräftig an der Transformation der Universitäten mitarbeiten. Es kann bei einem Streik nicht darum gehen, für die Ziele des Standorts zu kämpfen, sondern es muß gegen diese Ziele und für eine menschliche Form des Zusammenlebens und zusammen Lernens gehen. Daß es hierbei wichtig ist, den Blick über die Universitäten und Schulen hinaus zu wagen, sollte selbstverständlich sein. Denn der Umbau des Bildungswesens ist nur ein kleiner Teil der Transformationen und nur ein Schauplatz der Kämpfe für eine andere Welt.

 

4. Damit wären wir beim letzten Punkt, der (Re-) Produktion der Identitäten ‚StudentIn‘ und ‚SchülerIn‘. In dem alleine auf diese Identitäten rekurriert wird, wird die Teilung von anderen Kämpfen (re)produziert. Wenn „Identität die Urform von Ideologie“ (Adorno) ist, dann wird der Kampf als Gruppe mit einer bestimmten Identität – und im Endeffekt für diese Identität – zu keinem Ziel führen, da er die vorgegebene Situation nicht sprengt, sondern wiederholt und die Identität verfestigt.

Anstatt nun die Transformationen im Bildungswesen in Beziehungen zu gesellschaftlichen Prozessen zu setzen, werden sie vereinzelt und aus dem Kontext gerissen. Gleichzeitig werden durch die Reproduktion der Kollektividentitäten StudentIn und SchülerIn diese zu einer homogenen Masse stilisiert, die alle ein Interesse haben. Das sind sie sicher nicht. (5) Daß hier von sich aus das ‚divide et impera‘ – Prinzip angewandt wird, sollte nachdenklich stimmen. Die Teilung der sozialen Kämpfe (zu denen der Kampf im Bildungswesen durchaus gerechnet werden kann) in viele kleine Kämpfe (6) dient nur der Sicherung der Herrschaft und dem unbeirrten Voranschreiten beim Umbau der Gesellschaft.

Statt dessen gilt es Identitäten aufzubrechen, die Gemeinsamkeit der verschiedenen Kämpfe heraus zu arbeiten und überall neoliberale und reaktionäre Kräfte zurückzuweisen.

Streik unter den jetzigen gesellschaftlichen Verhältnissen muß heißen: Streik gegen den Überwachungsstaat, den Schily u.a. derzeit unbehindert aufbauen! Streik muß heißen: Studieren für ausnahmslos alle! Streik muß heißen: Grenzen einreißen! Streik muß heißen: für die Emanzipation jedes einzelnen Menschen!

Standort Deutschland abschaffen!

von: unbekannt

 

(1) Kursive Sätze sind Zitate aus dem Aufruf

(2) Es sei hier darauf hingewiesen, daß in der Bildung auch das Potential der Erkenntnis steckt, welches zur Emanzipation führen kann. Bildung ist nicht nur einseitig, sondern dialektisch zu verstehen, doch ist die Dialektik der Bildung nicht Gegenstand dieser Kritik.

(3) Hier wird zitiert, deshalb die männliche Form

(4) Gemeint ist die Situation, daß immer weniger Kinder aus einkommensschwachen Familien studieren.

(5) Das ist ebenso ein Punkt, an dem die Widersprüchlichkeit des Textes offenbar wird. Auf der einen Seite wir mit verschiedenartigsten, ebenso Widersprüchlichen, Argumenten der Heterogenität der Studierenden und SchülerInnen auf eine seltsame Art Rechnung getragen, auf der anderen Seite werden sie homogenisiert.

(6) Wie die Trennung von Antifa, Antira, MigrantInnenbewegung, etc.

 

 

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